Die französische Küche erlebt in Symbiose mit Einflüssen anderer Küchen und Techniken eine bezaubernde Renaissance.
Fotos: Ditte Isager/Le Coucou, Yam’tcha
Wir schreiben das Jahr 2010. In London geht Platz 1 der World’s 50 Best Restaurant-Liste an René Redzepis noma – und zum ersten Mal schafft es kein französisches Restaurant unter die Top 10. Dafür reiht sich auf Platz 11 Iñaki Aizpitarte mit seinem Le Chateaubriand ein. Ein gebürtiger Spanier, aufgewachsen in Frankreich, ausgebildet in Tel Aviv, der in einem ziemlich unelitären Restaurant in Paris unprätentiöse, intuitive, mutig kombinierte Gerichte für kleines Geld über den Pass hievt. Michelin-Stern? Fehlanzeige. Die Verteidiger der traditionsreichen Gastronomie Française gruben sich vor Entsetzen die Fingernägel in die Wangen.
Die große Stunde der Cuisine Bistronomique hatte geschlagen.
From Paris with Verve
Der galoppierende Wandel in der französischen Esskultur hat viele Mütter. Eine davon: Eine wachsende Zahl an jungen französischen KöchInnen, allesamt perfekt ausgebildet und weitgereist, möchten sich nicht mehr dem Druck des Traditionalismus beugen, sondern Wirtschaftlichkeit, Weltoffenheit und Experimentierfreude in ihren Küchen vereinen. Eine weitere: Im guten alten Nachbarschaftsbistro, wo sich der Franzose dereinst für kleines Geld an schlichten Klassikern wie Zwiebelsuppe und Steak Frites labte, ist – vor allem in Paris – das Zeitalter der touristischen Massenspeisung auf hohem Preis- und überschaubarem Qualitätsniveau angebrochen.
Aber wie so oft steckt in jeder Krise auch eine Chance. Und die Chance, die französische Küche von Kitsch und Klischee zu befreien, und sich ihr mit traditionellem Rüstzeug aber gänzlich neuen Zugängen auf vernünftigem Preisniveau anzunehmen, ergriffen einige Küchenchefs bereits vor Jahren. Neben Yves Camdeborde (Le Comptoir du Relais) und Aizpitarte war es vor allem Bertrand Grébaut, der die Bistronomie-Idee auf die nächste Stufe hob. Als er 2011 sein Septime aufsperrte, hatte er vier Jahre in der Küche von Alain Passards sternegekröntem L’Arpège hinter sich – und einen Plan. Auf hohem Niveau ohne Interior-Schnickschnack mit möglichst einfachen, möglichst nachhaltigen Zutaten zu einem Preis von schlappen 80 Euro für ein 7-Gang-Carte-Blanche-Menü maximal überraschende kulinarische Glücksgefühle bei seiner Kundschaft auszulösen. Eine Übung, die mit Gerichten wie „Geräuchertem Karfiol, Zwiebel, Senfjus, Lardo“ oder „Jakobsmuschel, Endivie, Mädesüß-Beurre-Blanc, Fingerlimette“ nach wie vor bestens gelingt.
Mittlerweile kennt das neue Goldene Zeitalter der neuen Nouvelle Cuisine viele Gesichter, die selbstbewusst Ingredienzen der asiatischen oder nordischen Küchen in ihr klassisch-französisches Repertoire einfließen lassen. Wie hochkarätig, innovativ und gleichzeitig klassisch Bistronomie sein kann, zeigt etwa Adeline Grattard in ihrem Restaurant yam’Tcha. Sie kombiniert französische Produkte mit chinesischer Kochkunst, Ehemann Chi Wah Chan ist für die Auswahl der Teesorten zuständig, die zu Gerichten mit unscheinbaren Namen wie „Süßkartoffel / Roher Thun / Kaviar“ serviert werden. Grattards Sinn für Aromen, Texturen und die Vermählung von Frankreich und Asien ist energisch, spontan, selbstsicher. Auch bei ihr kostet das Mittagsmenü nur 70 Euro. Sogar ganz ohne China-Kitsch.
Spontan Crossover
Nicht zuletzt sind es die nicht in Frankreich geborenen, teilweise aber ebenda oder zumindest im großen französischen Küchenhandwerk ausgebildeten Jungen, die für entscheidende Impulse sorgen. Von Berlin bis Hongkong eröffnete in den letzten Jahren eine ganze Reihe an Neo-Bistros, die den Befreiungsschlag vom französischen Traditionalismus wagen. Dazu zählt das Wiener What The Duck, wo hochelegant zwischen Dim Sum und französischer Ente à la Passard gegrätscht wird ebenso, wie das Haebel in Hamburg. Dort möbelt Küchenchef Fabian Haebel seine französisch verwurzelte Küche mit nordischen Elementen zu einer Nordic-French-Cuisine auf, in der Rebhuhn zu Haselnuss und Kohl darf, und Kabeljau mit fermentiertem Kerbelwurzeln, Kaviar, Linsen und Meerfenchel daherkommt. Alles hier führt unverkrampft und originell, sanft aber sicher weg vom Vertrauten.
Für den großen Abgesang auf die Old-School-French-Cuisine ist es aber noch zu früh. Das beweist etwa Küchenchef Daniel Rose in New Yorks French-Dining-Tempel Le Coucou. Der Amerikaner hat in Lyon das französische Handwerk gelernt, eröffnete 2006 mit dem Spring sein erstes Pariser Neo-Bistro als One-Man-Show mit 16 Sitzplätzen und einer entstaubten, verspielten, lustvoll französischen Küche – und mit Ansage: “Der Guide ist meiner Meinung nach kein adäquates Barometer mehr für das, was in der modernen Gastronomie passiert. Restaurants werden zu Kathedralen stilisiert, und Küchenchefs versuchen dieser Definition des Michelin von Qualität gerecht zu werden.“ Im Le Coucou, wo Rose seit zwei Jahren seine Vision der französischen Küche des 21. Jahrhunderts zelebriert, haben Buttersauce, Ente, Schnecken und Pâtes en Croûte trotzdem einen Fixplatz. Ganz klassisch, voller Reminiszenzen. Und trotzdem erfrischend anders.
Erschienen in QUINTESSENZ Magazin 01/19