Menschen, die unter einer psychosomatischen Störung leiden, kämpfen nicht nur gegen das Vorurteil des eingebildeten Kranken. Die Ursachen ihres Leidens werden auch oft zu spät erkannt. Ein Beitrag für das Magazin Grazettina.
Sorgen, die uns auf den Magen schlagen. Erlebnisse, die uns unter die Haut gehen. Der Volksmund kennt viele Redewendungen, in denen auf den Zusammenhang zwischen Seele und Körper hingewiesen wird. Dass sich dabei um mehr handelt, als Metaphernsalat, davon sind Mediziner, die sich mit dem Fachbereich Psychosomatik beschäftigen, überzeugt. Und doch wird die Beziehung zwischen körperlichen Schmerzsymptomen und seelischen Belastungen immer noch häufig belächelt. Betroffene werden von ihrem Umfeld als eingebildete Kranke abgestempelt oder als Hypochonder bezeichnet. Auf der Suche nach einer Diagnose pilgern sie von Arzt zu Arzt. Werden keine körperlichen Ursachen festgestellt und ziehen die behandelten Mediziner eine psychosomatische Störung nicht in Betracht, geht die Arztrallye weiter. Der 1994 verstorbene österreichische Psychiater Erwin Ringel schätzte, dass Psychosomatik-Patienten durchschnittlich sieben Jahre lang unterschiedlichste Ärzte aufsuchen, ehe ihre Krankheit adäquat behandelt wird. Dass solche Mehrfachuntersuchungen nicht nur kostspielig für das Gesundheitssystem sind, sondern auch den Leidensdruck der Betroffenen kontinuierlich steigern, liegt auf der Hand.
Schmerz als Sprache der Seele
Für Marguerite Dunitz-Scheer, die bis 2017 gemeinsam mit ihrem Mann Peter Scheer die Abteilung für Psychosomatik an der Kinderklinik in Graz leitet und sich mit der Non-Profit-Organisation NoTube auf die Behandlung von Kindern mit Essstörungen spezialisiert, ist der Zusammenhang zwischen Geist und Körper nicht nur unbestritten, er erfordere auch eine bewusste Aufmerksamkeit von Medizinern. Beim Thema Psychosomatik sei immer auch entscheidend, welche theoretischen Denkmodelle vorherrschen würden. „Es kommt natürlich darauf an, welche Haltung man als Mediziner einnimmt“, sagt Dunitz-Scheer. „Für uns geht es darum, uns sowohl der Frage der Entstehung als auch der Therapie sowohl körperlicher Symptome wie Magen- oder Rückenschmerzen, als auch der Persönlichkeit und Gefühlswelt des Patienten zuzuwenden.“
Man möchte meinen, dass dieser holistische Ansatz in Zeiten, in denen in westlichen Gesellschaften der Trend weg von einer rein naturwissenschaftlich orientierten Medizin hin zu einer ganzheitlichen Praxis geht, auch in der Gesundheitsversorgung Niederschlag findet. Dennoch durchlaufen viele Betroffene immer noch oft eine ärztliche Odyssee, bis körperlichen Symptome mit seelischen Faktoren in Verbindung gebracht werden – aber längst nicht nur von Medizinern, sondern auch von den Betroffenen selbst. „Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass Patienten, die unter seelischen Belastungen leiden, nur über körperliche Beschwerden klagen und beides nicht in Verbindung bringen“, sagt Dr. Alice Kurz, Oberärztin der Abteilung Psychiatrie an der Privatklinik St. Radegund. „Wenn wir Trauer oder chronischen Stress in unseren persönlichen und beruflichen Lebenswelten emotional nicht erleben oder ausdrücken können, kann es zu einer Somatisierung, also zum körperlichen Ausdruck all dessen, kommen.“
Komplexe Wechselwirkungen
Konkrete Zahlen, wie viele Menschen in Österreich an psychosomatischen Störungen leiden, liegen nicht vor, die Österreichische Gesellschaft für Psychosomatik schätzt aber, dass rund 30 % der Gesamtbevölkerung davon betroffen sind. Und dabei trifft es Frauen und Männer gleichermaßen häufig, das können auch Alice Kurz und Marguerite Dunitz-Scheer bestätigen. „Wobei Frauen und Kinder wahrscheinlich emotional weniger verschlossen und damit eher identifizierbar sind“, sagt Dunitz-Scheer.
In Fachkreisen herrscht Konsens darüber, dass psychosomatische Beschwerden im Zusammenspiel aus psychischen, körperlichen und sozialen Faktoren wurzeln, und in jedem Alter auftreten können. Am Beginn einer psychosomatischen Störung stehen laut Alice Kurz oft berufliche oder persönliche Konfliktsituationen, Traumata oder chronische Stressoren, die unter anderem Einfluss auf das vegetative Nervensystem, den Stoffwechsel oder das Immunsystem haben können. Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen gehen oft mit unspezifischen körperlichen Beschwerden einher. Für Marguerite Dunitz-Scheer spielen auch (früh-)kindliche Entwicklung und Erfahrungen bei der Entstehung von psychosomatischen Beschwerden eine Rolle. Vieles spricht dafür, dass wir in der Kindheit jene Instrumentarien erlenen, um später mit seelischen Vorgängen adäquat in Kontakt treten zu können.
Geht es an die unterschiedlichen Symptome psychosomatisch bedingter Beschwerden, reicht das Spektrum von Bauch-, Kopf-, Rücken- oder Gelenk- und Muskelschmerzen über Tinnitus und Juckreiz, bis zu Darmerkrankungen, Ess- und Atemstörungen und chronischem Ganzkörperschmerz (Fibromyalgie). Viele Betroffene würden zudem von der Angst begleitet, tatsächlich an einer schweren Erkrankung zu leiden. „Sehr viele Patienten verspüren etwa Symptome eines Herzinfarktes, sind aber körperlich gesund. Tatsächlich ist es die Angst vor der Herzerkrankung, die zu einer hormonellen Überreaktion führt und die Beschwerden auslöst“, erklärt Kurz. Ließen sich keine körperlichen Ursachen feststellen und würden die Symptome weiterhin bestehen, sei es wichtig, seelische Ursachen für die Beschwerden rechtzeitig in Betracht zu ziehen – und das dem Patienten behutsam bewusst zu machen. „Ich denke, es ist wesentlich, den Patienten das Gefühl zu vermitteln, dass sie ernst genommen“, betont Kurz. Erst wenn diese Vertrauensbasis geschaffen sei, könne man sich effektiv Therapiemöglichkeiten zuwenden.
Multimodale Therapiekonzepte
Mittels kognitiver Verhaltenstherapie, achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Therapiemethoden, aber auch einer begleitenden Physiotherapie ließen sich laut Alice Kurz gute Erfolge erzielen. Und sie ist überzeugt davon, dass Psychotherapie alleine eine zusätzliche medikamentöse Behandlung nicht immer ersetzen kann. Insbesondere bei Fibromyalgie-Patienten könne eine Behandlung mit Psychopharmaka dazu beitragen, die Schmerzwahrnehmung zu verändern – und damit auch die Einnahme von Schmerzmitteln zu reduzieren. Auch Marguerite Dunitz-Scheer glaubt, dass Psychotherapie und Medizin ein gemeinsames Ziel haben: „Gesundheit zu wahren und im Krankheitsfall wiederherzustellen. In der Psychosomatik arbeiten ÄrztinInnen, deren Schwerpunkt unterschiedlich gesetzt sein kann, die aber beides können sollen“, sagt sie. Lediglich das Propagieren nachweislich wirkungsloser Behandlungen sollte nicht unter dem Mantel der Psychosomatik auftreten.
Erschienen in Grazettina Nr. 01/19