Paul Ivić lehrt das internationale Gourmetvolk seit mehr als zehn Jahren, die vegetarische Küche zu umarmen. Nicht, weil er was gegen Fleisch hat. Sondern gegen eine achtlose Esskultur.
Fotos: Christian Maislinger, Ingo Pertramer
Tirol ist ein Land der Vertikale, alles hier strebt stracks himmelwärts. Die Wiesen, die Seilbahnen, die Restaurants. Und natürlich die Menschen. Bergvolk, eben. Das stellt sich der Restösterreicher ungeachtet aller Realitäten immer noch gerne so vor: Geboren im Dirndl oder mit langen Bärten, ernährt von Speckknödeln, und im Kontakt mit der Außenwelt eher polternd-brüsk denn sanft-reflektiert.
Paul Ivić ist Tiroler. Aber bis auf den Umstand, dass auch ihm die vertikale Linie liegt – vor allem in Sachen Karriere –, und er seinen Dialekt auch nach über 10 Jahren in Wien nicht abgelegt hat, hat der Mann wenig vermeintlich Bergvölkisches an sich. Mit schwarzem Pulli, grauer Hose und extravagantem Sehbehelf erinnert Ivić eher an einen Tech-Visionär auf dem Sprung zum nächsten TED-Talk. Die Begrüßung in seinem in einem eleganten Altbau in der Himmelpfortgasse gelegenen Restaurant TIAN fällt höflich, aber erst einmal freundlich-zurückhaltend aus. Zum Einstieg ein wenig Small Talk über das aktuelle TIAN Pop-Up im Zürser Hotel Edelweiss, in dem er und sein Team rund um TIAN Sous-Chef Peter Lehner vegetarische und vegane Tian Bistro-Gerichte im Sharing-Formataufwarten. Ivić spricht leise, bedächtig, zwischendurch ein feines Lächeln. In diesen ersten Minuten ist da nichts an ihm, das peng-zack oder polternd wäre. Aber – und das wird in den folgenden Stunden überdeutlich – es gibt Themen, bei denen er vielleicht nicht laut, aber doch bestimmt wird. Nicht dogmatisch, aber grundsätzlich.

VOLLBREMSUNG MIT 30
Wenn es um Produktqualität geht und das, was seiner Meinung darunter verstanden werden sollte, zum Beispiel. Oder um die industrielle Lebensmittelproduktion und den Umgang mit Lieferanten. Diese Themen beschäftigen Ivić seit zehn Jahren genau so intensiv, wie sie ihn zuvor kalt gelassen haben. „Ich musste 30 Jahre alt werden und körperlich und geistig komplett am Ende sein, um mich zurückzubesinnen auf das, was Essen für mich eigentlich bedeutet, und darauf, dass ein Lebensmittel kein verseuchtes Wegwerfprodukt sein darf“, sagt er.
Dabei bedeutete ihm Essen immer alles, schon als Kind habe er schlechtes Essen als Beleidigung aufgefasst. „Mit 13 hab ich in der Schulkantine sogar einmal gestreikt, weil das so ein furchtbarer Fras war!“, lacht er. „Und ich hab ja selbst miterlebt, welche Wertschätzung Lebensmitteln in meiner Kindheit in Serfaus gegenüber gebracht wurde. Nichts wurde weggeworfen, nichts verschwendet, auch das Einfache war besonders. Ich hatte das nur alles vergessen.“ Sich erinnern und hinterfragen: Dafür war auf dem Weg nach oben, den Ivić nach seiner Lehre einschlug, kein Platz. Er arbeitete in Top-Betrieben wie Martin Sieberers Trofana Royal in Ischgl und bei Sepp Schellhorn im Seehof in Goldegg, ging dann für vier Jahre nach Berlin, wurde erst Küchenchef, dann Geschäftsführer des Resorts Schwielowsee. „Ich war erfolgreich. Und fett, depressiv, geburnoutet und am Ende ernsthaft krank.“ Es musste anders werden, damit es wieder gut werden konnte. Und das wurde es.

GROSSE KLAPPE, VIEL DAHINTER
Weil Ivić, der selbst nach wie vor selten, aber doch Fleisch isst, für zwei Jahre auf reine Pflanzenkost umsattelte. Und weil ihm ein Freund ein Interview mit dem ehemaligen Superfund-Manager Christian Halper schickte, der gerade auf der Suche nach einem Küchenchef für ein neues vegetarisches Lokal in Wien war. „Mir hat getaugt, dass er sich mit Astrologie beschäftigt, weil ich dem selbst viel abgewinnen kann“, sagt Ivić „Und mir gefiel die Vision, die er fürs TIAN hatte.“ Auf seine Bewerbung hätte man ihm erst geantwortet, man werde sich in der Folgewoche bei ihm melden. „Da hab ich angerufen und gesagt: Ihr seid ein vegetarischer Laden, und ich geh davon aus, dass sich bei euch bis jetzt keiner beworben hat, der was kann. Jetzt könnt ihr mich haben. Ich bin in Wien, und kann in einer Stunde da sein“, erzählt er mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht. „Okay, das war ein bissl vorlaut. Aber eine große Klappe haben ist okay, wenn du wirklich gut bist.“ Ivić bekam seinen Termin bei Halper. Der Rest ist Geschichte.

QUALITÄT KENNT KEINE SCHUBLADEN
Bis sich der Erfolg einstellte, der das TIAN zum weit über die Landesgrenzen hinaus geschätzten und ersten fleischlosen Fine-Dining-Hotspot Österreichs machte, war es dennoch ein steiniger Weg. „Ich war grundnaiv“, sagt Ivić. „Nicht, dass ich den Aufwand unterschätzt hätte. Eher die Macht der Vorurteile gegenüber vegetarischer Küche, auch seitens der Mitarbeiter.“ Nicht nur die Suche nach geeignetem Personal gestaltete sich schwierig, auch die nach Lieferanten. Das sei heute deutlich einfacher. Und auch das Image der vegetarischen Küche habe sich gewandelt. „Aber mein Wunsch wäre, dass die Menschen sich in ihrer Ernährung grundsätzlich mehr in Richtung Qualität orientieren. Und qualitativ bedeutet nicht vegan oder vegetarisch. Ein Stück Fleisch voller Antibiotika hat keine Qualität, da ist die Fettmaserung egal! Und ein gespritzter Apfel ist giftig. Punkt!“

Jetzt ist Paul Ivić hellwach, seine Stimme fest, es geht ums Zentrum seines Zugangs zum Kochen, der darauf beruht, Gerichte kompromisslos vom Produkt her zu denken. Er hasst Schubladen, er will auch niemanden bekehren, aber er will zeigen, was Qualität ist, und klarstellen, welche Verantwortung Politik, Lebensmittelindustrie und Gesellschaft für den Planeten und die Gesundheit der Bevölkerung tragen. „Mir geht es nicht zwingend um den ethischen Aspekt des Fleischessens, sondern um das Essverhalten, das einen massiven Einfluss auf Ökonomie, Ökologie, unser Sozialverhalten und unsere Gesundheit hat!“, betont Ivić. „Zu sagen, der Konsument entscheidet, ob er Gift isst oder nicht, ist zu einfach. Der Konsument hat von Inhaltsstoffen in der Regel keine Ahnung. Und hätte die Politik ernsthaftes Interesse daran, etwas zu bewegen, dann würden wir Lebensmittel, die dem Menschen und dem Planeten guttun, für alle leistbar machen.“ Es könne nicht sein, dass ein pestizidverseuchter Apfel aus Monokultur weniger koste, als ein Bio-Apfel. „Das ist ein Systemfehler. Absurd.“
VERFÜHREN, NICHT BELEHREN
In diesem System nicht mitzuspielen, ist seiner Meinung nach selbstverständlich Aufgabe eines Kochs.„Ich muss meinen Gästen Essen anbieten, das frei von Toxinen ist, ich muss meinen Mitarbeitern beibringen, was Qualität ist, und ich darf nicht aufhören darauf aufmerksam zu machen, wie katastrophal es ist, beim Einkaufen um jeden Cent zu feilschen, und dann tonnenweise Lebensmittel in den Müll zu kippen.“
In puncto Food-Waste lässt Ivić nicht mit sich reden, im TIAN und TIAN Bistro wird grundsätzlich Putz und Stingl verarbeitet. Nur so könne er Mitarbeitern und Gästen den Wert eines Lebensmittels vermitteln. Was er darüber hinaus vermitteln will: Jedes Gericht, und sei es vermeintlich noch so simpel, kann dank der Wahl und Verarbeitung der Grundprodukte einen ganz neuen Geschmackshorizont eröffnen. Beispiel aus der aktuellen TIAN-Karte: „Seinerzeit“. Dahinter verbirgt sich eines seiner Signature-Dishes eine Stosuppe, bestehend aus saurer Milch, Erdäpfeln und Kümmel. Dazu reicht Ivić Brot und Butter. Einfach, im Grunde, aber es geht um die Details. „Heute ist pasteurisierte Milch aus dem Supermarkt gefärbtes Hormonwasser, früher war sie etwas Lebendiges. Wenn man die rausgestellt hat, wurde sie nicht schlecht, sondern sauer, und das schmeckt nicht nur fantastisch, sondern ist auch gut für den Darm. Dann das Brot! Ein Grundnahrungsmittel, aber was du im Handel bekommst, ist Müll für den Körper. Getreide braucht eine Ruhephase, um bekömmlich zu werden, deshalb lässt man Sauerteigbrot auch bis zu 48 Stunden ruhen. Und die Butter stellen wir aus Rohmilch selber her. Die schmeckt tausend Mal intensiver als normale Butter, aber je nach Saison auch ganz unterschiedlich. Das ist wirklich spannend!“

Dass sich Gäste immer wieder mal über die Preise für so gedachte und gemachte Sterneküche echauffieren würde, nimmt Ivić relativ gelassen. Er wolle nichts schlechtreden, aber seltsam sei es schon, dass man sich nicht rechtfertigen müsse, wenn ein Rinderfilet mit Pommes für 35 Euro über den Pass gehe. „Ist ja schließlich Fleisch! Und unser fleischloses 6 Gang-Menü kostet 132 Euro! Frechheit!“, scherzt er. „Nur wenn ich mir ansehe, welchen Aufwand wir treiben, wie viele Stunden wir arbeiten, oder dass bei uns 8 Mitarbeiter für 40 Gäste im Service unterwegs sind, dann stimmt an dieser Preispolitik alles.“
Nicht nur an der.

Erschienen im Quintessenz Magazin 01/22