Es gibt viele Franzosen, die sehr gut kochen. Und es gibt Paul Pairet. Der ist das kulinarische Missing Link zwischen den 90ern und dem dritten Jahrtausend. Deshalb entführt er die Gäste des Ultraviolet in Shanghai auch in seine Psyche.
Die Bandbreite menschlicher Emotionen ist enorm. 80 Prozent dieser Emotionspalette hat man bereits durchlaufen, wenn man im strömenden Regen Englands Platz genommen hat, der Duft kalten, nassen Regenpflasters einem in die Nase steigt und die Beatles Ob-La-Di, Ob-La-Da singen, während Micro Fish no Chips die Projektion des eigenen Namens auf der Tischplatte verdeckt. Man hat gefroren, gelacht, war geschockt, überrascht, verängstigt, unsicher, euphorisch, traurig, beschwingt. Und all das an einem unbekannten Ort irgendwo in Shanghai, der immer derselbe ist und doch nie der gleiche. Weil er mal sehr laut, dann sehr leise, gerade noch gleißend hell und nur ein paar Minuten später tiefschwarz, mal mystisch und verrucht und dann wieder kitschig-poppig ist. Ist das ein Traum? Ein Spiel? Oder ist es einfach doch nichts weiter als ein Abendessen? „Es ist Psycho“, sagt ein Mann mit Che-Guevara-Mütze und klassisch französischem Profil, Psycho Taste. Er ist der Spielmacher. Er ist derjenige, der den Traum zum Leben erweckt und Fine Dining zu einem anarchistischen, extremen und gnadenlos grandiosen multisensorischen Rausch der Sinne macht.
Die Kunst der Inszenierung
Er, das ist Paul Pairet, und mit seinem Restaurant Ultraviolet, kurz UVA, sprengt der französische Spitzenkoch seit Mai 2012 die Grenzen der Vorstellungskraft all jener Menschen, die von sich behaupten, schon alles gesehen und gegessen zu haben. „Das Konzept des UVA kann man nicht in ein paar Sätzen erklären“, sagt Pairet, „denn alles, was hier passiert, ist wahnsinnig komplex. UVA ist im klassischen Sinne unklassifizierbar, und das ist vielleicht die beste Definition.“ Er denkt kurz nach, atmet ein, atmet aus und bessert nach. „Aber im Grunde ist es ganz einfach.“
Einfach. In solchen Kategorien denkt Paul Pairet eigentlich nicht. Er hat mal Mathematik studiert, alles bei ihm hat System, muss im perfekten Gleichgewicht sein. Seine Sätze sind vollgestopft mit Worten, die auch ein Jean-Paul Sartre von sich hätte geben können – der Mann denkt und handelt verschachtelt, er sprüht vor Ideen und Geistesblitzen, vor Gedanken und Informationen. Das Komplexe einfach aussehen und wirken zu lassen, das ist die große Kunst des Paul Pairet. Und ein wenig auch das Erfolgsgeheimnis des UVA. Einfach bedeutet im Ultraviolet vor allem asketisch – wenn auch nur an der Basis. Mit einem normalen Restaurant ist dieser Ort nicht vergleichbar, und genau daran hat Pairet insgesamt 15 Jahre gearbeitet. In dem ehemaligen Tonstudio irgendwo am Rande von Shanghai, in einem Viertel, in dem Mülltonnen überquellen und dessen Bewohner so gar nicht ins Bild der Glamour-Metropole passen, gibt es nur einen einzigen großen Tisch und zehn Stühle. Weiße Wände, kein Dekor, keine Gemälde an der Wand. Einzige Ausnahme: ein 300 Jahre alter Baumstumpf im Eingang. Die Atmosphäre im Ultraviolet wird ausschließlich durch Gerüche, Geräusche, Projektionen und mit jedem der 20 Gänge wechselnden Bildszenarien geschaffen. Ein Techno-Dining-Room, voller LED-Lichter, Multi-Channel-Surround-Sound-Systeme, Temperaturregler.
Was hat all das mit Fine Dining zu tun, Mister Pairet?
„Der Grund, ins Ultraviolet zu kommen, ist das Essen. Und ich meine ausschließlich das Essen. Aber beim Essen geht es nicht nur um Geschmack, es geht um Emotionen, und die gehen weit über den Geschmack hinaus. Wenn wir von Psycho Taste sprechen, dann geht es um alles, was Geschmack ausmacht und beeinflusst, aber nicht um den Geschmack als solches.“ Vielmehr schafft Pairet im Ultraviolet ein Ambiente, das die geschmackliche Wahrnehmung seiner avantgardistischen Kunstwerke, die so französisch eigenwillig und perfekt umgesetzt sind, wie man es von einem, der Alain Ducasse seinen größten Fan nennen darf, erwartet.
Der Aufwand, den Pairet und die VOL-Gruppe, die das 2,5 Millionen Dollar teure Mega-Projekt finanziert, für das ultimative Essenserlebnis treiben, ist enorm. Bis zu 50 Mal ändert Pairet die Karte, bis das multisensorische Orchester perfekt harmoniert. 25 Angestellte kümmern sich um das Wohl von lediglich zehn Gästen, die sich immer zwischen Dienstag und Samstag um Punkt 18:30 in Pauls zweitem Shanghaier Lokal Mr and Mrs Bund treffen und dann per Chauffeur gemeinsam ins Ultraviolet gebracht werden. Ab diesem Zeitpunkt gibt es keine Zufälle mehr, nur noch Wow-Erlebnisse. Zum Einstieg etwa „Foie gras – Can’t Quit Red Fruit Cabbage Ash West & Smoke Ennio Morricone Light Sherry“. „Ja, ich weiß, es ist nicht ganz einfach, die Karte zu lesen und wir könnten jetzt Tage darüber sprechen, welche Gedanken diesem oder jenem Gericht zugrunde liegen“, amüsiert sich Paul auf Nachfrage zu den Gerichtenamen. „Aber im Prinzip ist es ganz einfach“, sagt er dann noch. Wieder einmal. „Der Reihe nach finden sich hier der Name des Ganges, die Hauptkomponenten, dann die Raum-Projektion, die begleitende Musik sowie in kursiver Schrift das entsprechende Getränk.“ Wie jetzt: Getränk? „Wein ist doch nicht die ultimative Antwort in der Getränkebegleitung! Wir servieren zu den Gerichten auch Tee, Bier, Soda, Cocktails, Schnäpse, Säfte …“ An Sätzen wie diesen wird deutlich, was Kritiker meinen, wenn sie Paul Pairet als den egalitärsten Spitzenkoch der Welt bezeichnen.
Ultra-Dining für Grenzgänger
Drei Monate lang warten Foodies und Gourmetfreaks darauf, an die 300 Euro für einen Abend im Ultraviolet ausgeben zu dürfen. Dass Pairet seine Gäste hin und wieder an emotionale Grenzen bringt, weiß er. „Wenn fremde Menschen an einem Tisch sitzen und vielleicht gerade eine stille, kalte, angespannte Atmosphäre herrscht, dann lösen wir diese Situation nicht auf, sondern lassen die Gäste bewusst in dieser Stimmung. Es ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle, aber trotzdem gibt es keinen anderen Weg, den Fokus intensiver auf das Gericht zu legen als diesen.“ Diesen intensiven Fokus zu erreichen, war immer Pairets Traum, bis zu seiner Verwirklichung hat es viele Jahre gedauert.
Drei Mal stand er bereits kurz davor, das Projekt umzusetzen. Die Idee geisterte schon früh in seinem Kopf herum: Weg von den Beschränkungen des althergebrachten À-la-carte-Systems, hin zu dem, was im 17. Jahrhundert der table d’hôte war – ein kleiner, familiärer Rahmen, alle Gäste an einem Tisch vereint vor demselben Gericht. Der Koch wird zum Gastgeber und Kontrolle bekommt eine Bedeutung, die man in konventionellen, modernen Gourmetküchen nur schwer erreicht – hoch effektives Zeitmanagement und damit Qualität auf höchstem Niveau. Ab 1996 wurde Pairets Idee immer konkreter, da hatte er gerade Hongkong, Sydney und Jakarta hinter sich gelassen, kochte im Café Mosaic in Paris die spannendste franko-asiatische Küche der Stadt und durfte Alain Ducasse zu seinem engsten Freundeskreis zählen. 2005 landetet er in Shanghai und eröffnete im legendären Shangri-La Hotel Pudong das nur kurze Zeit später nicht minder legendäre Jade on 36. Dort perfektionierte er seinen ganz eigenen Stil, die internationale Gourmet-Journaille feierte seinen unkonventionellen, verspielten und raffinierten Zugang und gekonnten Umgang mit den ungewöhnlichsten Produkten. Aus Dosensardinen ein avantgardistisches Geschmackserlebnis auf Sterneniveau zu zaubern – das ist Paul Pairets Ding. Diesen freien Zugang zur Haute Cuisine hat er sich bewahrt. „Mit dem sehr geradlinigen und verhältnismäßig unaufgeregten Mr and Mrs Bund und dem UVA habe ich mir zwei Lebensträume erfüllt“, sagt Pairet. „Im Mr and Mrs Bund kann ich stinknormales, gutes, anständiges und durchwegs populäres Essen kochen, mich im UVA dafür so richtig kreativ austoben. Es ist ein großer Luxus, sich völlig unabhängig von allen Konventionen in jede Richtung bewegen zu können, in die es mich zieht.“ Nach Europa zieht es ihn jedenfalls momentan nicht. Noch nicht. Fix ist nur, dass er gerade an einem Geschwisterchen für das UVA arbeitet. Es wird UVB heißen. Ganz einfach, eigentlich.