Wie Spitzenköche von Graubünden bis Salzburg auf Basis der traditionell kargen Alpenküche eine neue Hochküche einzigartiger Prägung schaffen.
Fotos: Robert Ribič, Suzan Gabrijan, Mesnerhaus, Unsplash
Von allen europäischen Gebirgen sind die Alpen, die sich in einem Bogen von der ligurischen Küste bis ins Pannonische Becken erstrecken, die Herren der Superlative. Sie sind die höchsten, wildesten, kältesten, isoliertesten unter den Erhabenen. Seit Ende der Eiszeit trotzen Menschen dem rauen und topografisch lange unerschlossenen Alpenraum Nahrung ab und schufen aus dem, was die oft kargen Verhältnisse boten, eine deftige, unprätentiöse Arme-Leute-Küche. Dass diese „Cucina Povera“ jemals eine Anziehungskraft ähnlich der globalisierten Hochküche entwickeln könnte, schien noch vor ein paar Jahren undenkbar. Heute zieht sie Spitzenköche diesseits und jenseits des Schnitzeläquators geradezu magisch an – weil sie etwas zu bieten hat, das beinahe übersehen worden wäre: Originalität. Und eine enorme Vielfalt an Pflanzen und Nutztierrassen. Damit hat die Küche des Alpenraums – so sie sich intelligent und kreativ über Kaspressknödel und Gröstl erhebt – das Potenzial, den weltgewandten Essern etwas zu vermitteln, das einst die von René Redzepi angeführte New Nordic Cuisine vollbrachte: den unverwechselbaren Geschmack von Zeit und Ort.
Den Aushängeschildern dieser kulinarischen Revolution geht es darum, sich Produkten anzunehmen, die schon seit Tausenden Jahren angebaut oder geerntet werden – aber auch jenen, die unsere Großelterngeneration noch nicht kannte oder nutzte – und sie mit dem Wissen und der Technik der modernen Küche zu Gerichten einzigartiger Prägung zu veredeln. Die Zauberformel für eine länderübergreifende alpine Hochküche heißt also: Mut zur Weiterentwicklung. Und zur Zusammenarbeit.
DER GESCHMACK DER ALPEN IST VERTRAUT UND DOCH VON EINER GRENZENLOSEN VIELFALT
GRENZÜBERGREIFENDES MITEINANDER
Tatsächlich hat die Kochelite des Alpenraums vom Einzelkämpfer- in den Kollaborationsmodus geschaltet. Ein alpines Foodsymposium jagt das nächste, und
was Köche von Graubünden bis Salzburg bei diesen hochkarätigen Thinktanks über
die Pässe schicken, ist ebenso überzeugend wie zukunftsträchtig. Eine der Vorreiterinnen der modernen Alpenküche und gern gesehener Gast bei Cooking Summits zum Thema ist die slowenische Ausnahmeköchin Ana Roš. Sie betrachtet Slowenien, Österreich und Italien als eine kulinarische Region und fokussiert sich in ihrem Restaurant Hiša Franko auf bekannte und weniger bekannte Produkte der Region Primorska und des Soca-Tals. Gerade in den kalten Monaten scheint das Angebot auf den ersten Blick überschaubar: Wild, Pilze, Äpfel, Kürbis, Nüsse. „Aber je weniger wertvoll die Grundzutat, desto größer die Herausforderung,sie mit noch unentdeckten Aromen zu kombinieren und mithilfe moderner Techniken daraus etwas Einzigartiges zu kreieren“, findet Roš. Brot aus fermentierten Apfelschalen zum Beispiel. Ziegenfrischkäse-Ravioli mit Mais, Prosciutto und Haselnussbrühe oder Eberescheneiscreme, gereifter Ziegenkäse, Apfelschaum und Shortbread.
„Die Kunst ist, jenen Gästen, die schon jeden Luxus der Welt auf dem Teller hatten,über den Gaumen ein Gefühl für Zeit, Ort und Kultur zu vermitteln.“
Andernorts, im Schweizer Graubünden, kämpft 3-Sterne-Koch Andreas Caminada
erfolgreich gegen das Knödelklischee an – und scharte beim von Dominik Flammer 2017 initiierten Alpengipfel auf Schloss Schauenstein Gleichgesinnte um sich. Heinz Reitbauer präsentierte dort etwa „Heidensterz – Nierenfett – Steinklee“, der Südtiroler 3-Sterne-Koch Norbert Niederkofler Tatar von der Renke, Caminada selbst eine Variation von traditionell sehr deftigen Pizzoccheri mit Wirsing, Speck und gereiftem Käse – luftig, leicht, modern und tausend Meilen entfernt vom klassischen „Hungertötergericht“. Für einen Gast, der die Welt auf der Zunge hatte, sei Kaviar in einem Grabündner Tal auf dem Teller schlicht uninteressant, ist Caminada überzeugt. Über den Gaumen erzählt zu bekommen, wo man ist: Das sei die Kunst, die es zu perfektionieren gelte.
LUFT NACH OBEN
So sieht es auch der Schweizer 2-Sterne-Koch Sven Wassmer, der auf dem Zürcher ChefsAlps-Symposium 2018 in Tannenzweigen und Heu geräucherten Lumare-Saibling aus 1000 Meter Seehöhe mit karamellisiertem Rahm und ein Dessert aus Bergkartoffeln, Valser Joghurt, Sahne und getrockneter Birne servierte.
Eine Kartoffelsorte, genauer gesagt der Lungauer Eachtling, liegt auch Josef Steffner, 3-Hauben-gekrönter Küchenchef des Mesnerhauses in Mauterndorf und hierzulande einer der wichtigsten Vertreter der modernen Alpenküche, am Herzen. Das vermeintlich unscheinbare regionale Spitzenprodukt setzt Steffner unter anderem mit Kaviar von Walter Grüll, Eidotter und Sauerrahm in Szene. Davon abgesehen haben es ihm die Aromen des Waldes angetan, allen voran Pilze, aber auch Flechten oder die Blätter der Balsampappel, die er im Zuge seiner Teilnahme am Chef’s Table zum Thema „Alpine Winterküche“ im Osttiroler Innervillgraten zu einem vor Waldaroma nur so strotzenden Kuchen verarbeitete. Flankiert wurde dieser von fermentiertem Wipfelhonig, kandierten und als Creme zubereiteten Flechten, eingelegten Lungauer Preiselbeeren, Preiselbeer-Baiser und getrockneten Löwenzahnblüten.
Dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um die moderne Alpinküche mit Flechten, Fichtenwipferln, Zackelschafherzen & Co. langfristig auf den nächsten Level zu heben, davon sind er und seine Mitstreiter jedenfalls überzeugt. Das Spiel zwischen Nostalgie und Avantgarde ist noch lange nicht ausgereizt.