Vor acht Jahren nahm Jessica Rosval an einem Tisch in Massimo Botturas Osteria Francescana Platz, einen Mutanfall später stand sie in seiner Küche, seit zwei Jahren ist sie Küchenchefin in Botturas Casa Maria Luigia in Modena, seit kurzem ganz hochoffiziell Italiens beste Köchin. Porträt einer Frau, die Küchen mit Piratenschiffen vergleicht und der beste Beweis dafür ist, dass man noch Chaos in sich haben muss, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
Fotos: Raphael Gabauer, Paolo Terzi Photography, stefano@stefanoscata.co, Helge O. Sommer
Und plötzlich, exakt zwei Minuten, nachdem sie die Main Stage der Rolling Pin Convention in Graz verlassen hat, ist sie da, diese feenhaft wirkende Frau, die Haare zu einem akkuraten Zopf geflochten, die Ärmel ihrer Kochjacke bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, Schürze um die Taille, und lächelt zur Begrüßung ein Lächeln, mit dem man zweifellos die Welt beherrschen könnte. Es ist kein liebliches oder vorsichtig-freundliches oder gar schüchternes Lächeln, sondern ein verwegenes, stolzes, neugieriges Lächeln. Ein Badass-Lächeln.
„So, what are we gonna do now?“ fragt Jessica Rosval dann. „Pferde stehlen, vielleicht?“ denkt man still bei sich, trägt aber natürlich laut etwas ganz anderes vor, fünf Minuten später sind ein paar Dutzend Porträtbilder im Kasten. Rekordzeit. Und während sich am Spielfeldrand die Gewissheit anschleicht, dass es scheinbar keine Bühne auf der Welt gibt, auf der Jessica Rosval nicht abliefert, und sich gedanklich tausend Fragen auftun, die man dieser Frau jetzt gerne stellen würde, ist sie bereits wieder auf dem Weg nach draußen und zum Flughafenshuttle. „Call me back in Modena!“ Badass-Lächeln zum Abschied.

ROSVALS BEWEGUNGS-LEHRE
Auch „back in Modena“ ist Frau ist schwer zu fassen. Die 35-Jährige Rosval reißt es nämlich in ihrer Funktion als Küchenchefin der Casa Maria Luigia, dem 2019 eröffneten Luxus-Gästehaus von Massimo Bottura und dessen Frau Lara Gilmore, zwischen 7 Uhr früh und 22 ziemlich um. Wenn sie dort nicht in der Küche steht, betreut sie diverse Bottura-Events und ist kulinarische Leiterin der „Association for the Integration of Women“, einer NGO, die Migrantinnen das professionelle Kochen beibringt. Rosval erarbeitet die Lehrpläne für die viermonatige Ausbildung, unterrichtet, und kümmert sich außerdem gerade um die Renovierung eines Hauses in Modena, in dem bald ein dem Projekt angeschlossenes Restaurant eröffnen soll. Es ist also nicht ganz einfach, einen Gesprächstermin mit Frau Rosval zu vereinbaren. Fünf Tage nach unserer Begegnung in Graz klappt es dann aber doch.
WIR PIRATEN
„Es kann sein, dass wir vielleicht zwischendurch eine Pause machen müssen“, sagt sie gleich zu Beginn. „Gut was los heute am Piratenschiff!“ Dass Rosval ihre Küche, eigentlich jede Küche, mit einem Piratenschiff vergleicht, ist diesem einem Moment vor 20 Jahren geschuldet. Da jobbte die in Quebec aufgewachsene Rosval nebenbei als Kellnerin in einem Restaurant – und verliebte sich. In die Hitze, die hastig hin und her geschupften Töpfen und Pfannen, den Sound brutzelnden Fleischs, den Duft extrahierender Fischkarkassen, den permanenten Gefechtslärm der Küchentruppe, die auf sie wirkte „wie Piraten auf einem Piratenschiff“. Die Menschen und die Energie in dieser Küche, das Chaos und Durcheinander, in dem gleichzeitig so viel Ordnung herrschte und alles Sinn machte, wirkte auf sie wie eine Droge, sagt sie. „Ich wusste einfach: Genau da, und nur da, will ich sein.“
Mit 17 begann sie ihre Ausbildung am Dawson College und dem Institut de tourisme et d’hôtellerie du Québec, es folgten Stationen bei Laurent Godbout in Montreal und in Melissa Craigs Bearfoot Bistro in Whistler. Dort wie da regierte die französische Klassik. „Das hat sich vor acht Jahren ziemlich schnell und radikal geändert. So wie mein ganzes Leben!“, lacht Rosval.

ALLES AUF ANFANG
Eigentlich wollte sie damals eine Pause vom Kochen einlegen. „Ich hatte diese typisch nordamerikanische Vorstellung von einem Europa-Backpacking-Trip im Kopf. Nach sieben Tagen in Italien kam dann dieses Essen in der Osteria Francescana. Ich wusste damals überhaupt nichts über Italien, aber nach diesen 12 Gängen hatte ich das Gefühl, ich hätte das ganze Land bereist. Es hat mich umgehauen.“ Am Ende des Abends nahm Rosval ihren ganzen Mut zusammen und fragte Bottura, ob sie für ihn arbeiten dürfe. „Er meinte einfach nur: okay, du hast ein Wochenende“, erzählt sie. „Ich wusste, ich muss in diesen drei Tagen tausend Prozent geben und so hart wie nie zuvor arbeiten. Was ich damals noch nicht wusste war, dass ich alles würde vergessen müssen, was ich bis dahin gelernt hatte. Ich musste meinen Zugang zum Kochen völlig umkrempeln.“
Bottura und sein Souschef Takahiko Kondo brachten ihr in den ersten Monaten nicht nur Italienisch und eine neue, von jedwedem Korsett befreiten Art zu kochen bei, sie führten ihr vor allem auch vor Augen, was Kochen alles bewirken und vermitteln kann. „Meine Arbeit ist eine einzigartige Möglichkeit, Emotionen, Erinnerungen, Geschichten und Gefühle zu transportieren. Ein Weg, mit Menschen in Kontakt zu treten, eine universelle, internationale Sprache“, sagt Rosval. „Das hat etwas Magisches. Und Massimo ist jemand, der diese Magie wie kein anderer vermitteln kann.“ Rosval hat großen Respekt für ihren Mentor, sie bewundert ihn für seine Risikofreude, seine Fähigkeit, sich so selbstverständlich über Fine-Dining-Konventionen und kulinarische Glaubenssätze hinwegzusetzen, seinen Wissensdurst. „Für Massimo stellt sich die Frage, ob etwas möglich oder unmöglich ist, grundsätzlich nicht, er macht einfach. Ich glaube, es gibt nicht viele 3-Sterne-Köche auf der Welt, die so frei im Geist sind, wie er“, sagt sie.

DIE FREIHEIT, DIE SIE MEINEN
Dieser freie Geist schwebt auch über de Casa Maria Luigia. Bottura und seine Frau ersteigerten den zerlemperten, verlassenen Bauernhof 2017. Was sie damit tun sollten? Erstmal unklar. „Aber dann reifte dieser Gedanke in uns, die Menschen dazu einzuladen, wieder intensiver im Hier und Jetzt zu leben, und mit uns, anderen Gästen und mit dem Essen zu interagieren“, sagt Rosval. Also wurde aus dem Bauernhof ein Gästehaus und ein Ort, an dem Kulinarik, Kunst, Design, die Emilia-Romagna, Natur, Musik und die Geschichte der Osteria Francescana miteinander verschmelzen. Rosvals stark von modenesischen und emilianischen Traditionen beeinflusstes, kulinarisches Konzept ebenda beruht im Wesentlichen auf drei Säulen – Frühstück, Sonntagsbrunch und abendliches Osteria Francescana-Tasting Menu. In allen Bereichen spielt das Kochen über offenem Feuer ein wesentliche Rolle, Rosval nutzt Holzofen, Räucherofen und Grill. „Ich bin Kanadierin, ohne Ahornsirup und Holzfeuer geht bei mir gar nichts!“, betont sie. Das Frühstücksangebot ist eine zeitgemäß in Szene gesetzte Hommage an die bäuerlichen Frühstückstraditionen der Region. Es gibt Gnocco Fritto ein Brot aus Mehl, Wasser und Schmalz, geröstete Cotechino-Wurst, Zwiebelomelett, Spinattorte. Zum Lunch rücken Rosval und ihr Team saisonales Gemüse aus dem eigenen Garten und regionstypische Produkte in den Fokus, und an fünf Abenden die Woche dreht sich alles um neun ikonische Gerichte der Osteria Francescana – Stichwort „Oops! I dropped the lemon tarte“ oder „The crunchy part oft the lasagna“ –, die in der Osteria selbst nicht und nie mehr serviert werden.
Jessica Rosvals liebster kulinarischer Kreativ-Spielplatz ist aber das sonntägliche, terroirgeprägte Brunchmenü Tòla Dòlza, was übersetzt so viel wie „Geh es entspannt an“, bedeutet, und – man ahnt es – mit gängigen Konventionen und Vorstellungen von Luxus-Futter in einem Luxus-Hotel brechen will. Ein Auszug aus dem aktuellen Menü: Ricotta vom Feuer mit Rosenessig, marinierten Blütenblättern und Nussbutter, Focaccia mit Zwiebelcreme, Prosciutto cotto aus den Marken, auf Zedernholz gegarte Forelle mit Jasminblütenöl und Sour Cream-Scones, getrockneter, gesalzener Kabeljau mit Muschelcreme, Schweineschwartenchips mit Zwetschkenjus und gebranntem Mais, drei Tage lang gegarte Shortribs mit BBQ-Saucen im North Carolina- und Texas-Style. „Im Grunde genommen sind es einfache Gerichte, aber mit einem mutigen, zeitgemäßen und experimentellen Twist“, sagt Rosval, die jedes Gericht nur ein einziges Mal serviert. „Die Karte wechselt jedes Wochenende, weil wir uns immer neu erfinden möchten, ausprobieren und weiterentwickeln. Jeder für sich, und als Team.“

BETTER TOGETHER
Ihrem Team hat Rosval ihre bislang wohl bedeutendste Auszeichnung, den vom Guida dell’Espresso verliehenen Female Chef of the Year 2021-Award gewidmet. „Ohne dein Team bist du als Küchenchefs nichts, es ist also eine Team-Auszeichnung … und eine Plattform, über Dinge zu sprechen, die mir wichtig sind.“ Das wären? „Demut, Leidenschaft, Freude am Lebenslangen Lernen, Frauen in der Küche, die Macht der Zusammenarbeit, des Zusammenhalts und der gegenseitigen Unterstützung.“ Sie findet, es sei höchste Zeit, die in Spitzenküchen nach wie vor dominierenden, hierarchischen Strukturen und das Rivalitäts- und Wettbewerbsdenken hinter sich zu lassen. „Ich möchte der Welt zeigen, dass man eine Küche auch anders leiten kann, dass wir ein Umfeld schaffen können, in dem man einander wahrnimmt, wertschätzt und vor allem den jungen Menschen, die mit uns arbeiten, den nötigen Raum und die Bühne gibt, um ihr Potenzial voll auszuschöpfen.“ Atta girl!

Erschienen in Rolling Pin °259