Mahl-Zeit am Limit

Früher war nicht alles besser, eines aber jedenfalls: Für ein entspanntes Abendessen außer Haus brauchte man lediglich Appetit und gute Gesellschaft mitzubringen. Heute ist eine Stoppuhr empfehlenswert.

Nach meiner Erinnerung war Essengehen früher mit dem Vorsatz verbunden, sich unbeschwert und zeitlich maximal lose definiert der Konsumation von Speisen und Getränken zu widmen. Verbunden mit Ritualen und festen symbolischen Handlungen, die – wie eine Studie des amerikanischen Psycho-Fachblattes Psychological Science kürzlich bestätigte – den Allgemeineindruck bei der Nahrungsaufnahme doch entscheidend beeinflussen.

Da gab es den Kellner, der geduldig die Speisenempfehlungen vorbrachte und bedächtig Korken aus Flaschen zog. Die einzelnen Gänge, die man sich mal mehr, mal weniger ausführlich erklären ließ. Die Zeit, die dazwischen blieb, in der man Heiratsanträge machen, über das aktuelle Kinoprogramm philosophieren oder übers schlecht polierte Silberbesteck lästern konnte. Den Grappa danach und vielleicht noch einen danach. Und viel Stunden später
torkelte man berieslingt, satt und glücklich nach Hause.

Ich behaupte, Essengehen brachte früher ein Stück Lebensqualität. So als Gesamtereignis. Diesen Königspfad zu mehr Lebensqualität durch Essengehen haben wir mittlerweile verlassen.

Entspannt Essengehen, das ist neuerdings was für Kulinarik-Nostalgiker. Beim Restaurantbesuch 2.0. wird der moderne Foodie (ja, das sind die, die ihr Essen so lange fotografieren, bis es kalt ist) jetzt nämlich nicht mehr empfangen, sondern kriegt den »Slot« um 18 oder 20 Uhr und wird für maximal zwei Stunden »geseated«.


Nur der guten Ordnung halber: Wie »seaten« geht, wissen angeblich ALLE Menschen, die in Amerika ab und an zu speisen pflegen. Die Altvorderen beschlossen auf diesem Kontinent offensichtlich schon sehr früh, dass gutes Essen gleich schnelles Essen ist. Wer in den USA den Versuch wagen möchte, entspannt zu dinieren, muss ebenda um ein »Late Seating« ansuchen – das ist der letzte Termin in einem sehr terminreichen amerikanischen Großstadtleben, um noch was zwischen die Kiemen zu kriegen.

Ich esse recht oft ausländisch im Ausland. Auch in Amerika hab ich schon ausländisch gegessen. Nur dass man mich dort nicht geseated hat. Wie hingesetzt werden funktioniert, weiß ich erst, seitdem ich kürzlich die wirre Idee gebar, essengehen zu wollen. In eines von diesen Lokalen, die aktuell gerade wie Pilze aus dem Boden schießen
und sich mit überschaubarer Kompetenz dem Grillen von Steaks und Burgern widmen. Die Plexiglasvitrine mit den ausgestellten Dry-Aged-Haxen durfte ich noch passieren. Danach war Schluss mit der freien Entscheidung.

»Sie haben 45 Minuten«, sagte sie.
»Aber …«, setzte ich an.
»Danach können Sie an die Bar«, sagte sie.
»Aber …«
»Was darf ich zu trinken bringen?«, fragte sie.

Und 30 Sekunden später, in denen ich meine Begleitung aus reiner Menschenliebe heraus nicht anschweigen, sondern begrüßen wollte: »Sie haben schon gewählt?«

Hatten wir nicht.

Ungefähr eine Minute hab ich dann noch darum gekämpft, uns ein wenig Zeit zu verschaffen. Ich hab charmant gelächelt. Ich hab das leidende Gesicht gemacht. Kurz hab ich sogar darüber nachgedacht, mir die Kinder des jungen Paares vor dem Lokal zu borgen. Weil man Kinder schnell zum Weinen bringen kann und die ja grundsätzlich keinen Grund sehen, schneller oder langsamer zu essen, weil sie ja blöderweise noch kein Zeitgefühl besitzen.

Vergeblich.

Wir haben dann einen unterkühlten Burger in unterkühlter Atmosphäre innerhalb von 30 Minuten verdrückt. Denn wir wollten eigentlich nicht mehr essen unter all den bösen Blicken. Dem der Kellnerin, die anfangs »eh darauf hingewiesen« hat, dass ich nach 45 Minuten mein Besteck fallen lassen muss und mich in die nächste Bar verpissen soll, wenn ich noch was zu trinken habe möchte. Dem unserer Tischnachfolger, die an der Bar schon ihre Fingernägel ins Eschenholz gehauen haben, weil sie wussten, dass sie in 5:30 Minuten Anspruch auf meinen Platz haben.

Als Essengeher muss man das jetzt eben einfach auf die Reihe bekommen, seine Kaubewegungen dermaßen zu beschleunigen, dass sich ein Steak, ein Achterl Rot und ein Tiramisu innerhalb einer Stunde ausgehen.

Warum das alles so ist, heute, hab ich dann ein paar Tage später aber doch noch einen Gastronomen gefragt. Und der hat gesagt, das liege daran, dass man als Schankwirtschafter heutzutage nur mehr wirtschaftlich arbeiten könne, wenn man seine Tische mindestens zwei Mal pro Abend dreht. Das ist eine klare Kampfansage an Restaurantlungerer wie mich.

Es gibt ganz eindeutig Sachen, die früher besser waren als heute.

CONEMILL #5, 2014

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