Das Herz Asiens schlägt laut in Tuwa, dem geografischen Mittelpunkt des Kontinents. Der Fotograf Helge Kirchberger hat dem Herzschlag ein Gesicht gegeben und fängt in seinen Bildern die Lebenswelt eines Volkes ein, das aus der Zeit gefallen scheint.
Foto: Helge Kirchberger
Als würde man ständig durch den Sucher einer Kamera schauen. Als wäre man der einzige, der letzte Mensch auf diesem Planeten. Als gäbe es, links und rechts der staubig-lehmigen Straße, die von den Ausläufern des Altai-Gebirges ins Landesinnere führt, wo Großer und Kleiner Jenissei zusammenfließen, keine Grenzen. Nur noch Weite.
Wenn Helge Kirchberger von seinem Sehnsuchtsort am anderen Ende der Welt erzählt, schwingt in seiner Stimme etwas Träumerisches, Vorsichtiges, Ehrfürchtiges mit. „Ich hab viel gesehen in meinem Leben. Berlin, Krakau, San Francisco, Paris … Der Job bringt die Welt mit sich“, sagt Kirchberger, gebürtiger Schwede, eingebürgerter Salzburger und einer der besten Food- und Lifestyle-Fotografen Österreichs. „Aber Tuwa ist anders. Tuwa ist einzigartig.“
Ausgerechnet Tuwa also. Ein Land, auf den ersten Blick so weltentrückt wie die einstigen Vorposten des Wilden Westens. In der autonomen Republik im Süden Sibiriens – geografischer Mittelpunkt Asiens und zehn Mal so groß wie Österreich – leben gerade einmal 300.000 Menschen. Die Tuwiner sind Nomaden mongolischer Abstammung, Nachfahren kämpferischer, selbstbewusster Schafhirten, die 1912 die chinesischen Eroberer aus dem Land vertrieben und die Volksrepublik Tuwa ausriefen. Sie sollte nur bis 1944 bestehen, da fiel Tuwa an die Sowjetunion. Die Russen stellen mittlerweile eine Minderheit dar, aber die Spuren der russischen Besiedelung prägen noch heute das Landschaftsbild. „Diese aufgelassenen, verfallenen Sowjetfabriken mit der Kamera einzufangen, zu dokumentieren, wie die Natur die Gebäude zurückerobert … Für jeden Fotografen ist das ein absoluter Traum“, sagt Kirchberger, der mit seiner Leica Monochrom ein eindrucksvolles, schwarz-weißes Stimmungsbild dieses mystischen, rauen Landes und seiner Bewohner geschaffen hat. „In dem industrialisierten, zivilisierten Europa, wie wir es kennen, würde man eine Fabrik, die nicht mehr in Betrieb ist, natürlich abreißen. Aber in Tuwa spielen Grund und Boden keine Rolle, da baut man einfach eine neue Fabrik gleich neben der alten.“
Dschingis Khans Blut
Wie Geisterschlösser aus einer vergessenen Welt thronen die Sowjetruinen an den Rändern der Hauptstadt Kysyl und in den Tälern zwischen Altai-, Sajan- und Tannuola-Gebirge, die von dem nomadischen Turkvolk seit mehr als 40.000 Jahren landwirtschaftlich genutzt werden. Die Tuwiner sind geschickte Jäger, Handwerker und Bauern, die Landbevölkerung bestreitet ihren Lebensunterhalt mit der Zucht von Yaks, Rindern, Kashmirziegen und Fettschwanzschafen. Die Milchwirtschaft Tuwas zählt zu den hochentwickeltsten Asiens, aus Stuten, Yak- und Ziegenmilch werden neben Käse und Butter vor allem Spirituosen hergestellt. Tuwinischer Wodka sowie der traditionell in einem Ledersack vergorene und anschließend destillierte Milchbranntwein sind Spezialitäten, an denen kein Besucher aus der Fremde vorbeikommt. Für europäische Gaumen sind die alkoholischen Tuwa-Milchshakes eine Herausforderung. „Einen angebotenen Yakmilch-Schnaps abzulehnen, würde die Gastgeber beleidigen, da muss man einfach durch. Geschmacklich ist der Trunk definitiv eine grenzwertige Angelegenheit“, sagt Kirchberger.
Zu Ehren des fotografierenden Reisenden aus dem fernen Österreich schlachtete ein tuwinischer Clan auch einen Hammel, so will es die Tradition. Von Schafaugen-Verzehr oder anderen kulinarischen Extremen wie dem in Tuwa besonderen Gästen vorbehaltenen Schafsbecken- knochen blieb Kirchberger verschont. „Vielleicht haben sie es ja auch gelassen, weil sie mich nicht in Verlegenheit bringen wollten“, schmunzelt er. Schaffleisch ist Hauptnahrungsmittel in Tuwa, verarbeitet wird grundsätzlich alles, was am Tier dran oder in ihm drin ist. Der Tötungsakt folgt klaren Regeln: ein kurzer Einschnitt in die Brust des Tieres, dann fasst der Schlächter mit der Hand ins Innere des Tieres und erstickt es durch Zudrücken der Aorta. Diese Vorgehensweise rührt noch aus Dschingis Khans Zeiten, der verfügte, dass kein Tropfen Blut die Erde benetzen darf. Die Steppenküche Tuwas ist eine karge, schnörkellose und naturbelassene Urküche, seit Jahrhunderten wird sie kaum unverändert gepflegt. Fleisch wird nicht gewürzt und in der Regel gekocht. „Optisch ist das Ergebnis nicht besonders ansprechend“, lacht Kirchberger, der in seinem Leben abseits tuwinischer Weiten regelmäßig kunstvolle Gerichte der weltbesten Spitzenköche im Salzburger Hangar-7 in Szene setzt. „Graues Fleisch, Innereien und Brühe, aber nahrhaft und kräftigend.“ Für Vegetarier gleicht eine Reise nach Tuwa wohl eher einem unfreiwilligen Diät-Bootcamp.
Der Klang des Windes
Dass Helge Kirchberger 2013 erstmals einen Fuß nach Tuwa setzte, ist auch ein Stück weit Noora Gröger zu verdanken. Die ausgebildete Kinesiologin und Gründerin des Salzburger KIWA-Institutes, in dem sie verschiedene schamanische Traditionen in Seminaren weitergibt, leitete eine Reise nach Tuwa. Die große Unbekannte reizte Kirchberger, aber nicht in erster Linie aus professionellen Motiven, sondern, wie er sagt, „um durchzuatmen, mich zu erden, und diesen beruflichen und zivilisatorischen Stress, dem ich jeden Tag ausgesetzt bin, etwas entgegenzusetzen.“
Die wilde Schönheit der Region und das starke spirituelle Band, das Land und Leute seit jeher zusammenhält, zogen Kirchberger magisch an. Gemeinsam mit Gröger holte er für ein alternatives Musikfestival das tuwinische Alasha-Ensemble nach Salzburg: drei traditionelle Kehlkopfsänger aus der Meistergruppe von Tuwa und dem Tuvian National Orchestra. Im Zuge seiner diesjährigen Reise nach Tuwa trafen Fotograf und Künstler einander wieder; es ist ein zartes, aber beständiges Band zwischen dem Salzburger und den Nomaden.
In ihren Liedern erzählen die tuwinischen Kehlkopfsänger vom Klang des Windes, sie beschreiben die Form der Gebirgszüge, den Flügelschlag des Steppenadlers oder die Schatten, die ihre Pferde auf das Gras der unendlichen Weiten werfen. Für die Tuwiner ist der Obertongesang einer von viele Arten, den unsichtbaren Geistern und Wesenheiten Respekt zu erweisen. Schamanismus und Buddhismus konnte auch die einstige kommunistische Führung Tuwas nicht ausmerzen, heute prägen schamanische und lamaistisch-buddhistische Traditionen das Land. „In Tuwa geht man nicht zum Arzt, sondern zum Schamanen“, erzählt Kirchberger, den die Glaubens- und Lebensvorstellungen der Heiler tief beeindruckt haben.
Schamanismus ist kein ländliches Phänomen, auch in der Hauptstadt Kysyl finden sich in umittelbarer Nähe buddhistischer Gebetshäuser ganz selbstverständlich Schamanenzentren. Die Tuwiner konsultieren die Naturheiler bei Krankheiten aller Art, bei Todesfällen, als spirituelle Begleiter bei Festen. Wie jenem, bei dem kleinen Jungen zum ersten Mal in ihrem Leben die Haare geschnitten werden. Ein Ritus, der in einigen wenigen Regionen Tuwas noch gepflegt wird. Kleine Jungen, so glauben die Tuwiner, seien besonders anfällig für böse Geister. Deshalb lässt man sie bis zum fünften Lebensjahr wie Mädchen aussehen.
Die Letzten ihrer Art
Eine Reise durch Tuwa, sagt Helge Kirchberger, sei auch eine Reise in eine Welt, die vom Aussterben bedroht ist. Tuwa ist enorm reich an Bodenschätzen, an Gold und Erz. Viele Tuwiner sehen darin eine echte Zukunftsperspektive für ihr Land. Die Befürworter einer fortschreitenden Industrialisierung wollen Flüsse umleiten und durch heilige Stätten im Gebirge Eisenbahnschienen legen. Die junge Generation sehnt sich nach dem Westen, nach einem Studium an einer russischen Universität, nach einem weniger beschwerlichen Dasein. „Wenn man als Tourist nach Tuwa kommt, dann wirkt das Leben dieser Leute so romantisch“, sagt Helge Kirchberger. „Es gibt keinen Handyempfang, nur viel Einsamkeit und Stille. Wir wählen diesen Lifestyle auf Zeit, um uns zu erholen. Aber das echte Leben in einer Jurte, bei Wind und Wetter, Eis und Schnee im Winter und Hitze und Mücken im Sommer, ohne Strom und fließendes Wasser … Das ist eine ganz andere Kiste.“
Wie überzivilisiert unsere Gesellschaft sei, sagt Kirchberger, falle einem erst auf, wenn man ein Land wie Tuwa bereist. Wo acht bis zehn Stunden für 40 Kilometer Wegstrecke auf schlaglochgesäumten Schotter- und Lehmpisten in notdürftig zusammengeschweißten Ladas eingerechnet werden müssen, und die meisten Einwohner – moderner Segnungen wie Einkaufszentren & Co. zum Trotz – immer noch mit einfachsten Mitteln ihr tägliches Leben bestreiten. Tuwas Nomaden blicken einer ungewissen Zukunft entgegen, aber von Kapitulation wollen Tuwas stolze Stammesführer und Geistheiler nichts wissen. Sie kämpfen um ihre Traditionen, um Pferderennen, Bogenschießen und den Ringkampf, Volkssport in Tuwa. „Ein Schamane, den ich auf meiner letzten Reise im Mai getroffen habe, hat einen sehr schönen Satz gesagt“, erinnert sich Kirchberger. „Er meinte, er würde niemals bei uns leben wollen, denn wir hätten zwar asphaltierte Straßen, aber verlernt, mit den Bäumen zu sprechen.“