Sie ist so charmant wie Paris. Nur weniger spießig. Und sie hat viel mehr Gesichter als jenes der aller Welt bekannten pinkelnden Bürschchens: Brüssel ist die geheimnisvolle Schöne unter Europas Metropolen.
Was sind das eigentlich für Menschen, deren Wahrzeichen ein kleiner, pinkelnder, lediglich knapp 60 Zentimeter hoher Bronzejunge ist, der – so will es eine der zahlreichen Legenden – dank der beherzten Öffnung seines Hostenstalls zielsicher eine feindliche Fackel löschte, mit der die Stadt in Brand gesetzt werden sollte? Meine Frage bringt Roland Hemeleers zum Schmunzeln. Ihm sei ja in seiner Zeit als Brüssel-Guide schon die eine oder andere Frage gestellt worden, aber darüber, so sagt er, habe er eigentlich noch gar nie so richtig nachgedacht. Nach einem Weilchen antwortet er dann doch, während wir an der berühmtesten Bar der Stadt, dem L’Archiduc im Fashion- und Szene-Viertel Dansaert, vorbeischlendern. „Wir sind offensichtlich kreativ, wehrhaft, mutig, humorvoll und ein wenig rebellisch“, lautet Rolands Conclusio, „aber das sind ja nicht die schlechtesten Eigenschaften, die man den Bewohnern einer Stadt zuschreiben kann!“ Roland übrigens ist ein jovialer Mittvierziger, dessen Aufgabe in den kommenden Stunden darin besteht, mir seine Heimatstadt so zu zeigen, wie sie wirklich ist. Denn wie Belgiens Hauptstadt wirklich ist, davon hatte ich – wie wohl so viele andere Reisende auch – bis dato kein Bild. Das weiß auch Roland, der eigentlich im Sozialdienst arbeitet, aber in seiner Freizeit unentgeltlich dafür Sorge trägt, dass dieser bilderlose Umstand kein Dauerzustand bleibt.
Denkt ein Europäer an Brüssel, dann denkt er an die Europäische Union, und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Diese Assoziation ist nicht zwingend die ungetrübteste. Woran kaum jemand denkt, ist das, was diese im wahrsten Sinne des Wortes sehr europäische Hauptstadt des kleinen Königreichs Belgien wirklich zu bieten hat. „Nein, Brüssel besteht nicht nur aus EU-Gebäuden, Frittenbuden und dem Atomium“, scherzt Roland, mit dem ich mittlerweile in einer der berühmtesten Kneipen der Stadt, dem Le Roi des Belges am Place Saint Géry, gelandet bin. Tagsüber geht es auf der kleinen Terrasse vor dem Ecklokal entspannt zu, man sitzt hier mit Blick auf den romantischen, mit kleinen Bäumen gesäumten Platz, trinkt, tratscht und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
„Schon rein architektonisch betrachtet ist Brüssel eher ein Mix aus allen Metropolen der Welt. Es gibt Prachtboulevards und mondäne Palais wie in Paris, kleine, verwinkelte, charmante Gässchen wie in Madrid, prachtvolle Einkaufsgalerien mit Mailänder Flair, moderne Architekturpaläste, Design-Shops, alteingesessene Schokolademanufakturen. Die Stadt ist ein unvergleichbarer, bunter Mix aus Prunk und Pop, aus Moderne
und Tradition.“ De facto, ergänzt Roland noch, bestünde die Metropole Brüssel ja immerhin aus 19 selbstständigen Städten, die verschiedener nicht sein könnten.
Langeweile ist hier nicht.
WER AN BRÜSSEL DENKT, DENKT AN BIER, PRALINEN, FRITTEN UND WAFFELN. DAS IST GUT SO. BESSER TUT MAN ALLERDINGS DARAN, SICH AUF EINE STADT VORZUBEREITEN, DIE EINEM WELTUMSPANNENDEN FEINKOST-LADEN ÄHNELT. DENN SO UND NICHT ANDERS TICKT BRÜSSEL KULINARISCH.
Wie jung, urban und facettenreich Brüssel wirklich ist, zeigt sich im Dansaert-Viertel und in der Gegend rund um den alten Fischmarkt an der Place St. Catherine am deutlichsten. Nur einen kleinen Spaziergang vom Stadtzentrum und der Grand Place entfernt, hat sich hier aus einem einst vergessenen Viertel ein angesagter Treffpunkt für Kunst- und Kulturschaffende ebenso wie für Gastronomen entwickelt. In den großen, eleganten Häusern im Pariser Haussmann-Stil pulsiert das Leben, rund um die Markthallen im flämischen Neorenaissance-Stil drängen sich junge Schmuck- und Modedesigner, schicke, avantgardistische Cafés mit klingenden Namen wie Mappa Mundo oder Zébra und kleine, auf den ersten Blick unscheinbare Restaurants, die dem Namen Brüssels als Gourmet-Wunderland alle Ehre machen.
So ein kulinarisches Kleinod führt auch Olivier van Klemput in der Rue de Flandre, wo der Geruch von Meeresfrüchten sich mit dem von Trappistenbier und frischem Brot mischt. Mit seinem blitzblau gestrichenen Portal sticht das Viva M’Boma, was übersetzt so viel wie „Es lebe die Oma“ bedeutet, optisch aus den angrenzenden Cafés und Kneipen hervor – und auch die Speisekarte der ehemaligen Metzgerei liest sich etwas anders als jene der zahlreichen „typisch belgischen“ Brasserien der Stadt, die ihre Gäste allerdings eher halbherzig mit Muscheln und Fritten zu sehr selbstbewussten Preisen abspeisen. Van Klemput, der von der belgischen Gourmet-Journaille als einer der zukünftigen kulinarischen Hoffnungsträger der Stadt gepriesen wird, serviert in seinem kleinen, puristisch gehaltenen Lokal belgische Kult-Kulinarik aus Omas Zeiten. Sprich: pochiertes Kalbshirn, Kuheuter, Ochsenschwanz & Co. Für Freunde innerer Werte ist ein Besuch im Viva M’Boma also Pflicht. Wem der Sinn weniger nach traditionell belgischem Lokalkolorit auf dem Teller steht, muss jedenfalls nicht lange suchen, um fündig zu werden.
Roland, mit dem ich mittlerweile meine Tour fortgesetzt habe, schwärmt von den kleinen, sehr preiswerten und authentischen Asia-Küchen, die sich hier zahlreich finden. Die Rue Dansaert ist sozusagen die Verbindungsstraße zwischen Chinatown und dem vietnamesischen und thailändischen Viertel an der Rue Jules van Praet. Mittags drängt sich das Szene-Volk mit gelockertem Krawattenknopf vor Läden wie dem Lune de Miel oder dem Thiên-Long, das zwar ziemlich klein und ziemlich kitischig eingerichtet ist, dafür ganz großes vietnamesisches Gaumenkino bietet. Und je tiefer wir vordringen in diese bunte, laute, lebendige Welt des Dansaert, desto klarer wird, dass ich hier nicht einfach in der Hauptstadt der Fritten, Muscheln und Pralinen gelandet bin, sondern in einer einzigen großen Weltküche. Ein Feinkostladen, der prall gefüllt ist und dessen Sortiment sich stetig erweitert.
Kurz nach Mittag begleitet mich Roland noch an die Place St. Catherine, die Gegend rund um den Fischmarkt ist – wie sollte es auch anders sein – das Zuhause der besten Fischrestaurants der Stadt. Etwa das La belle Maraîchère, eine Institution am Platz, in der man Politiker als Tischnachbarn und die angeblich beste Fischsuppe der Stadt im Teller genießt. Gleich ums Eck bei François dreht sich alles um rohes Meeresgetier, in den blank geputzten Vitrinen des an das Restaurant angeschlossenen Feinkostladens strahlen Hummer, Fines-des-Claires-
Austern, Königsgarnelen und Jakobsmuscheln um die Wette. Und bei Noordzee gegenüber drängen sich zu Mittag Fischfans an den kleinen Open-Air-Stehtischen. Wer nach einer hier genossenen Portion Schnecken in Bouillon, einem perfekt auf den Punkt gegarten Thunfischfilet und einem Glas Weißwein nicht vor Glückseligkeit zu taumeln beginnt, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Rolands kleine und doch irgendwie große Mission für heute ist an dieser Stelle allerdings zu Ende, und bevor er endgültig hinter den imposanten Mauern der Kirche Sainte Catherine verschwindet, erinnert er uns noch daran, dass wir uns hier nicht nur in der europäischen Kulinarik-Hauptstadt befinden, sondern auch am Geburtsort der Schlümpfe, von Tim und Struppi und Lucky Luke. „Also lasst euch Ixelles nicht entgehen, und macht einen Abstecher ins Café Belga!“, ruft er uns nach. Winkt, und zieht von dannen.
Vorher geht es für uns aber erst mal ein paar Hundert Meter weiter am Fischmarkt, in ein Haus, in dem van Gogh einst lebte und in dem heute mit Gaëtan Colin ein Glanzlicht der jungen Brüsseler Michelin-Sterne-Träger-Gilde werkt. Der ehemalige Bocuse-d’Or-Finalist hat sich mit seinem Restaurant Jaloa – der Name setzt sich übrigens aus den Vornamen seiner beiden Töchter zusammen – innerhalb kürzester Zeit in die Oberliga der Brüsseler Fine-Dining-Liga katapultiert. Im Jaloa dominiert nicht nur in puncto Interieur die stilvolle Moderne, auch in den Töpfen des mit 16 Gault-Millau-Punkten bewerteten Gourmet-Wizards geht es sehr zeitgemäß und international zu. „Ich koche im Jaloa ausschließlich das, was mir persönlich schmeckt und Spaß macht“, erzählt der aufgeweckte Küchenchef mit der markanten Zahnlücke und dem breitesten Lächeln seit der Erfindung der Zahnpastawerbung. Dabei schöpft er produkttechnisch insbesondere aus dem, was Belgien und das nahe Frankreich zu bieten haben, in puncto Zubereitung aber geht er im Zweifelsfall lieber den nordischen-reduzierten als den pompösen, klassisch französischen Weg. Das Ergebnis dieses aromatisch wie optisch höchst anspruchsvollen stilistischen Weges nennt sich dann etwa „Marinierter Langustino mit Ingwer-Zitronen- Espuma“ oder „Steinbutt mit Rote-Bete-Texturen und Champignons“. Dass seine Küche bis dato mit lediglich einem Michelin-Stern gewürdigt wurde, sieht Colin zwar gelassen, aber er hält auch nicht mit seiner Theorie zu diesem Ranking hinter dem Berg. „In Belgien einen Stern zu erkochen, ist wirklich harte Arbeit, wesentlich härter als in vielen anderen europäischen Ländern“, erklärt er uns. Es gebe nun mal eine enorme Anzahl an grandiosen Sternelokalen in Belgien, und die Tester würden mit den Sterneaspiranten grundsätzlich sehr hart ins Gericht gehen. Aber das, davon ist Colin überzeugt, sei am Ende wohl der Sache zuträglich. „Sehen Sie sich doch mal an, wie viele tolle Restaurants es alleine in Brüssel gibt, die harte Konkurrenz belebt also das Geschäft.“
Wie hoch das gastronomische Level in Brüssel ist, wird uns am selben Abend an einem ganz anderen, sehr schicken Ende der Stadt vor Augen geführt. Das Quartier Louise ist Pilgerstätte für Fans von Dior, Hermès & Co., hier zeigt sich Brüssel von seiner prunkvollen Seite. Mit seinen vielen Geschäften, Museen, Theatern, Clubs, Cafés und Restaurants bildet das Viertel rund um die Avenue Louise gemeinsam mit dem hippen Ixelles das Einkaufs-, Kultur- und Ausgehviertel in der Oberstadt. Und so gediegen, wie man hier in wunderschönen Jugenstil-Villen residiert, speist man auch.
Im Cospaia regiert das Motto „Sehen und gesehen werden“, das Ambiente ist so modern und stylish wie die übergroßen Sonnenbrillen der mit edlem Geschmeide versehenen Schönheiten, die hier zahlreich am Champagner nippen. Im Dining-Room geht es mondän mit einem Hauch Frankreich zu, man tafelt unter perfekt restauriertem Stuck, das Chateaubriand mit Fritten zergeht auf der Zunge und wer nach der – zugegeben nicht für Sparefrohs geeigneten – Rechnung an Schnapp-atmung zu leiden beginnt, kann sich auf der etwa 180 Quadratmeter großen Terrasse mit Blick über die ganze Stadt gediegen vom Schock erholen.
Art Nouveau, Art Decó … und Fritkot
Am nächsten Morgen machen wir uns früh auf den Weg ins Marollenviertel, das zwar im Herzen Brüssels liegt, aber dennoch von Touristenströmen weitestgehend verschont gebliebten ist. Es ist ein von vielen ethnischen Gruppen geprägtes Viertel, 1000 Farben, Düfte und Eindrücke begleiten uns weiter nach Saint-Gilles, das an das Marollenviertel grenzt. Dort zeigt sich Brüssel von seiner multi-ethnischen, authentischen und sehr weltoffenen Seite. Einwanderer aus Portugal, Polen, Spanien und Nordafrika haben hier auch kulinarisch ihre Spuren hinterlassen. Unser wahres Ziel an diesem Tag ist aber Ixelles, das facettenreichste aller Brüsseler Stadtviertel. Am hippen Place Flagey befindet sich im architektonisch sehenswerten ehemaligen Gebäude des Belgischen Rundfunks mit dem Café Belga der wahrscheinlich trendigste Laden der Stadt. Hier findet wirklich alles und jeder zusammen – Familien, Studenten, EU-Bedienstete, Touristen – und sie alle treffen im Laufe ihres Aufenthaltes an der Theke aufeinander, denn im Belga gilt Selbstbedienung. Der Popularität des Lokals tut der fehlende Service allerdings keinen Abbruch. Die Speisekarte bietet zwar nur kleinere Snacks und Salate, deren Qualität passabel ist, wirklich bombig sind dafür der Kaffee und die Atmosphäre. Cool und lässig auszusehen kann aber eben auch verdammt anstrengend sein, also machen wir auf dem Weg in die Untiefen dieses von genialer Streetart geprägten Viertels noch einen Zwischenstopp bei Frit Flagey.
Eine Frittenbude von vielen in Brüssel, möchte man meinen, aber über Frit Flagey wurde bereits der Legendenstatus verhängt – und genau so legendär schmecken auch die „Fritkots“ – Fritten mit Sauce tartare und Spezialität des Hauses –, die wir andächtig aus unseren Papiertüten futtern. Vorbei an kleinen Comicläden, Kunstgalerien, Bäckereien, riesigen Wandgemälden und Art-nouveau-Häusern, landen wir schließlich im Herzen des Châtelain-Viertels, das ebenfalls zu Ixelles gehört, aber schon weitaus offensichtlicher von den Bourgeoise Bohemiens in Beschlag genommen wurde. Also jenem Menschenschlag, der eine Lebensstil-Mixtur aus Revolte und Karriere, Subkultur und Mainstream pflegt. Der wöchentliche Markt auf dem Place de Châtelain im Herzen des Quartiers zieht Foodies magisch an, die trendigen Bars rund um den Platz sind abends bestens gefüllt. Die lebendige Restaurantszene bietet für jeden Geldbeutel und jeden Gaumen etwas. Während in Locations wie dem Un jour a Peyrassol oder dem Odette en Ville Schnecken, Edelfisch & Co. am Programm stehen, geht es in der legendären Quincaillerie, einer ehemaligen Eisenwarenhandlung, die aufwendigst renoviert und in Szene gesetzt wurde, gemütlich-gediegen und klassisch belgisch zu.
Am Ende dieser viel zu kurzen Entdeckungsreise durch Europas einzig wahre Hauptstadt steht auf unserem Tisch ein Glas Gueuze. Eine besondere Bierspezialität, die aus verschiedenen Lambic-Bier-Jahrgängen gebraut und in verkorkten Schampusflaschen gelagert wird. Während das edle Gebräu wohlige Wärme in der Magengegend verbreitet, muss ich an Rolands Worte über den Manneken Pis und die wahre Natur der Brüsseler denken. „Kreativ, wehrhaft, mutig, humorvoll und ein wenig rebellisch.“ Nein, das sind nicht die schlechtesten Eigenschaften, die man einem Völkchen zuschreiben kann.
Und in dieses wunderschöne, unentdeckte Brüssel einzutauchen, ist eine der spannendesten Entscheidungen, die man als begeisterter Weltenbummler, Foodie oder Kunstliebhaber treffen kann.